Ansichten eines Lumpenpazifisten

Ja, ich bin Pazifist. Und darüber hinaus ein erklärter Feind von Ausbeutung, Unterdrückung, zwanghafter Durchsetzung eigener Interessen zum Schaden Anderer und generell jeder Form von Ungerechtigkeit. All das sind Ausprägungen einer Form von Herrschaftsausübung: der Dominanz über andere. Dabei spielt für mich keine Rolle, ob diese Dominanz per Gewalt (oder ihrer Androhung) oder durch wirtschaftliche oder eine sonstige Abhängigkeit begründet wurde – es bleibt immer Dominanz und sie dient ausnahmslos dazu, eigene Interessen gegenüber Anderen durchzusetzen.

Ich bin im Gegenteil ein Verfechter der Gleichwertigkeit des Menschen, unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe, Religion, sexueller Orientierung, Alter, Herkunft und was es sonst noch an künstlichen Unterscheidungskriterien geben mag. Mensch ist Mensch. Punkt. Das ist eine uralte Idee, die auf einer Lehre der jüdischen Thora basiert (Lehre des Sem – Semitismus), die vom Christentum übernommen wurde, eine uralte Vision also, die zu realisieren bis heute versucht wird. Und obwohl die Menschheit in diesem Punkt bereits viele Fortschritte gemacht hat (zum Beispiel, indem Rassismus immer häufiger und deutlicher offengelegt und angeprangert wird), am Ziel ist sie gleichwohl noch lange nicht. Noch immer orientiert sich die Tagespolitik aller Nationen am Primat der Dominanz: Es geht um exklusive Zugriffsmöglichkeiten auf Ressourcen für die eigenen Nationen, es geht um Profite für einige Wenige, es geht um wirtschaftlichen und politischen Einfluss und seine Durchsetzung, teilweise sind sogar niedere Instinkte wie Hass mit im Spiel, Hass auf bestimmte Menschen und deren Grundbedürfnisse oder auch Furcht vor unbekannten Kulturen oder Denk- und Verhaltensmustern. Gerade bei als rechtsextrem zu verortenden Menschen ist Angst vor dem Fremden regelmäßig ganz besonders hoch ausgeprägt.

Ich habe den Kriegsdienst verweigert. Nicht, weil ich nicht töten könnte. Ich habe zwar noch nie etwas Größeres als ein lästiges Insekt getötet, jedenfalls nicht absichtlich. Ich will einfach nicht töten. Denn Leben ist etwas Kostbares und fremdes Leben gehört mir nicht, ich habe kein Recht dazu, außer um, gemäß dem Kreislauf der Natur – friss oder stirb! – zu überleben. Wir können nicht überleben, ohne Organisches zu uns zu nehmen und es somit zu töten, sei es pflanzliches oder tierisches Leben, das können ausschließlich Wesen, die zur Photosynthese oder ähnlicher Energiegewinnung fähig sind. Also muss töten auch irgendwo Teil unseres Lebens sein, es anders zu sehen, wäre hoffnungslos naiv. Aber es ist schon etwas anderes, ob ich töte, um mich am Leben zu halten, oder aus niedrigeren Motiven heraus. Ich könnte es vermutlich schon, in einer akuten Bedrohung eigenen und anderen unschuldigen Lebens. Aber bevor solch eine extreme Ausnahmesituation mich dazu zwingt, werde ich wohl nie erfahren, ob ich ein Menschenleben auszulöschen in der Lage bin oder nicht.

Ich habe den Kriegsdienst vielmehr verweigert, weil ich mich nicht zwingen lassen wollte, auf Befehl zu töten oder zu sterben. Ich habe den Kriegsdienst verweigert, weil eine Armee, auch eine, die als Verteidigungsarmee konzipiert war oder ist, immer ein Instrument der Dominanz ist oder zu einem solchen gemacht werden kann. Und jeder Soldat, vom Gefreiten bis zum General, ist stets der Dominanz von Leuten mit eigenen, teils undurchschaubaren Interessen ausgeliefert. Die Idee der Gleichwertigkeit der Menschen und Dominanz sind aber nicht miteinander vereinbar, niemals!

Jetzt habe ich mich wohl in Widersprüche verstrickt, was? Einerseits könnte ich in einer Bedrohungssituation womöglich töten, was ja nichts anderes bedeutet, als dass ich das Recht auf Selbstverteidigung anerkenne. Andererseits weigere ich mich, in einer Verteidigungsarmee zu dienen, was auch nur ein Äquivalent dafür wäre, auf Bedrohungen zu reagieren, halt in einem deutlich höheren Maßstab als auf der persönlichen Ebene.

Selbstverständlich erkenne ich das Recht auf Selbstverteidigung an, alles andere wäre absurd, es ist schließlich ein essenzieller Teil des Lebens selbst. Jede Kreatur wird sich verteidigen, wenn sie dazu in der Lage ist, sobald ihr Leben in Gefahr ist, natürlich auch der Mensch. Doch anders als die meisten Tiere sind Menschen (oder einige davon) in der Lage, nicht nur instinktiv, sondern auch mithilfe ihres Verstandes auf eine Bedrohung zu reagieren. Und der Verstand kann einem im Unterschied zum Instinkt unterschiedliche Wege aufzeigen, einer Bedrohung zu begegnen. Der eine wird vielleicht brachial reagieren, mit roher Gewalt. Der andere wird auf List setzen. Wieder ein anderer wird es womöglich für sinnvoll erachten, sich einer Bedrohung nicht entgegenzustellen, sondern sich mit ihr zu arrangieren, sich der Dominanz einer anderen Macht mithin zu beugen. 

Wenn wir jetzt auf den Gedanken der Gleichwertigkeit zurückkommen, dann folgt aus ihm, dass nicht nur das Leben, sondern auch die Gedanken und Ideen eines oder einer jeden von uns denselben Wert haben. Wenn wir dagegen sagen: „Nein, mein Gedanke ist der einzig richtige und ihr müsst mir jetzt alle folgen!“ hat das mit Gleichwertigkeit nicht das Geringste zu tun. Sondern eben wiederum mit Dominanzverhalten.

Aber genau das passiert hier gerade im Ukraine-Konflikt und zwar ständig und auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Sicher haben die Ukrainer ein Selbstverteidigungsrecht, keine Frage. Jeder hat das Recht, auf eine Bedrohung in seinem Umfeld zu reagieren, sei es mit Waffengewalt oder gewaltfrei. Das Gewissen eines jeden Einzelnen ist aber in jedem Fall zu achten. Genau das sagt auch unser Grundgesetz in Artikel 4 (1). Mag sein, dass Gewalt der einzige mögliche Weg gegen eine Aggression ist, auch wenn es höchst unwahrscheinlich ist, denn die historischen Beispiele, in denen Gewalt die einzige mögliche Lösung war, sind rar gesät. Der militärische Sieg der Alliierten über Hitler war sicherlich ein solches Beispiel. Allerdings verbietet es sich, ein Extrembeispiel wie dieses auf jede Situation der Weltgeschichte übertragen zu wollen und wer das tut, macht sich eines unglaublichen Verbrechens schuldig: Der Verharmlosung Hitlers, des Nationalsozialismus und der rechtsextremen Ideologien, die dahinterstanden und die bis heute nicht aus der Welt getilgt wurden. Gerade wir Deutschen sollten uns vor solchen Anwandlungen sehr in Acht nehmen! Auch wenn es andere Wege gibt, jede(r) Ukrainer*In hat das Recht, sich mit der Waffe in der Hand zu verteidigen – und die Konsequenzen in Kauf zu nehmen. Doch niemand hat das Recht eine(n) Andere(n) zu zwingen, sich diesem Weg anzuschließen. Und ich als Deutscher habe das Recht, dafür einzustehen, dass wir diesen Krieg nicht zu unserem machen – selbst, wenn es strenggenommen längst „unser“ Krieg ist, wie unsere Außenministerin unlängst zugegeben hat.

Man könnte natürlich argumentieren, dass die Unterstützung der Ukraine nichts anderes ist als der Kampf gegen Unterdrückung, gegen einen Aggressor, der maximale Dominanz über ein Volk ausüben möchte, mithin genau der Kampf gegen Ungerechtigkeit, den ich selbst zu führen oben vorgegeben habe. Nun gut, Putin hat mittlerweile eindeutige Dominanzgelüste entwickelt, keine Frage, und er hat den Dominanz-Apparat, um seine Interessen durchzusetzen. Das ist völlig unbestritten.

Allerdings muss der, der sich dieses Argument zu eigen macht, sich auch vorhalten lassen, dass die Bundesregierung dann sehr wählerisch in der Auswahl ist, wem sie in solch einer Situation hilft … und wem nicht. Als die USA völkerrechtswidrig den Irak angegriffen oder Libyen bombardiert und beide Länder in failed states verwandelt haben, hat Deutschland nicht nur geschwiegen, sondern den Aggressor vielmehr unterstützt, und sei es nur, indem es zugelassen hat, dass dieser von deutschem Hoheitsgebiet aus seine Angriffe koordiniert und gesteuert hat. Auch im Jemenkrieg war von keiner Unterstützung der jemenitischen Bevölkerung gegen den Aggressor Saudi-Arabien die Rede. Vielleicht, weil das arme Jemen kein so lukrativer Geschäftspartner ist wie der Aggressor? Oder wäre je die Rede davon gewesen, den Kurden, die Erdogan selbst nach dem gewaltigen Erdbeben in dieser Region mit über 50.000 Toten weiterhin hat bombardieren lassen, schwere Waffen zur Verfügung zu stellen, damit sie sich selbst verteidigen können?

Oh nein, Gerechtigkeit ist nicht parteiisch, deshalb trägt Justizia, die römische Göttin der Gerechtigkeit, auch eine Augenbinde. Unterdrückung ist immer Unterdrückung, egal, von welcher Seite sie ausgeübt wird. Dasselbe gilt für Ausbeutung. Dominanz ist immer eine Perversion des Gedankens der Gleichwertigkeit der Menschen, egal, wer sich ihrer bedient. Natürlich war das alte Sowjetreich dominant. Natürlich versucht Putin heute wieder, Dominanz auszuüben. Natürlich ist der chinesische Vormarsch weltweit eine ebensolche Ausweitung der nationalen Macht und somit Dominanzverhalten, wie auch die NATO-Osterweiterung seit Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Es gibt in diesem „Spiel“ keine Unschuldigen, nicht im Osten und nicht im Westen!

Und wer sagt: „Unser Dominanzverhalten ist rechtens, das der Gegenseite aber nicht“, ist im besten Falle scheinheilig (oder alternativ in hohem Maße intelligenzbefreit), im schlimmsten Falle verhält er oder sie sich imperialistisch. Diese Kausalität zu erkennen, ist der wichtigste Schritt. Dieser fällt den meisten Menschen schon schwer, denn so viele glauben ernsthaft, dass, wer für Frieden eintritt, automatisch ein Putin-Unterstützer sei. Welch enorme Ignoranz bezüglich der Idee der Gleichwertigkeit, noch dazu von Menschen, die sich selbst als Christen bezeichnen! Ich wiederhole: Der Gedanke der Gleichwertigkeit beinhaltet eine Oppositionshaltung gegenüber jeder Form der Dominanzausübung, egal von welcher Seite.

Leichter ist nach dieser Erkenntnis dann schon die Wahl einer Alternative zur Gewalt, denn, machen wir uns nichts vor: Gewalt führt uns heute nirgendwo hin, denn heute besitzen Menschen Waffen, die das Leben auf dem Planeten mehrfach auslöschen könnten. Und wer sich in die Enge getrieben fühlt (egal auf welcher Seite), kann der Versuchung, solche einzusetzen, nur extrem schwer widerstehen. Schon gar nicht führt Gewalt im Ukrainekrieg zu einer Lösung, denn dieser Konflikt kann militärisch von keiner Seite entschieden werden und wenn, dann final – im besten Fall „nur“ für Europa, im schlimmsten für alles Leben auf diesem Planeten. Der Konflikt kann nur durch Verhandlungen beendet werden und im Wort „verhandeln“ steckt eben auch das Bild, sich die Hand zu reichen, in der vollen Absicht, eine friedliche Übereinkunft zu finden. Das heißt aber auch, sich auf Augenhöhe zu begegnen und es heißt auch, sich gegenseitig (!) einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Das dürfte zwar gerade für Deutschland nicht mehr ganz einfach werden, nachdem Ex-Kanzlerin Merkel in einem Interview mit der ZEIT zugegeben hat, dass die Minsker Verhandlungen nicht dazu gedient hätten, eine Übereinkunft zu finden, sondern Russland hinzuhalten, um der Ukraine Zeit zu verschaffen, sich auf eine gewaltsame Auseinandersetzung vorzubereiten. Versucht werden muss es gleichwohl, denn die Alternative ist Tod und Leid für sehr viele Menschen für womöglich noch sehr lange Zeit. Was, bitte schön, würde einen solch extrem hohen Preis rechtfertigen? Das müsst ihr mir erklären, ich verstehe es nämlich nicht.

Nein, es ist nicht die Gewalt, die alternativlos ist, sondern der Beginn von Verhandlungen! Je eher solche beginnen, desto besser! Wenn die Menschheit angesichts der riesigen Krisen – Klimawandel, Artensterben, Raubbau der Ressourcen, Vermüllung der Umwelt, mithin der drastischen Reduzierung und langfristigen Vernichtung unserer eigenen Lebensgrundlagen – überleben möchte, muss sie zusammenarbeiten, über alle Nationen- und Blockgrenzen hinweg. Das bedingt aber auch die Beilegung jeglichen Dominanzverhaltens, da ansonsten jede Partei am Verhandlungstisch davon ausgehen wird, dass sie von den anderen hintergangen werden wird (wäre nicht das erste Mal …) – was Verhandlungen extrem in die Länge zieht bis unmöglich macht, wie wir an all den sogenannten Klimaschutzkonferenzen sehen konnten.

Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir endlich damit anfangen, die Grundlagen unserer Weltreligionen, derer wir uns so gerne als Maske bedienen, ernst zu nehmen. Ansonsten könnte sich allzu schnell herausstellen, dass diese in einem kritischen Punkt am Ende recht haben: Dass wir Menschen uns plötzlich in einer höchst irdischen Hölle wiederfinden, aus der es kein Entrinnen gibt. Vielleicht bleiben wir Alte, deren Lebenszyklus sich bereits dem Ende nähert, davon noch verschont, aber ganz bestimmt nicht unsere Kinder und Kindeskinder! Deshalb muss jeder von uns sich selbst fragen: Sind wir, jede(r) Einzelne von uns, nicht verpflichtet, den Planeten unseren Nachkommen in einem mindestens genauso guten Zustand zu überlassen, wie wir ihn vorgefunden haben? Sind wir daher nicht auch dazu verpflichtet, aktiv für Frieden und weltweite Kooperation einzutreten?

Ich denke schon. Und du?