Ein Skandal mit System …
… oder ein Skandal im System? Weder noch. Das System ist der Skandal!
Aber von vorne! Heute früh (29.7.2015) brachte der Nachrichtenkanal B5 aktuell einen Beitrag, wonach Fälle, in denen Bauarbeiter aus dem Osten, die um ihren Lohn geprellt wurden, keine Einzelfälle sind, sondern, dass offenbar ein System dahintersteckt (http://www.br.de/nachrichten/inhalt/lohnbetrug-baustellen-100.html). Ein paar Originalzitate aus dem Artikel von Claudia Gürkov, Irene Esmann und Michael Kubitza (für den Fall, dass diese Nachricht nur ein begrenztes Mindesthaltbarkeitsdatum aufweist):
Sie kommen nach Deutschland, um auf Baustellen Knochenarbeit zu leisten. Doch wenn der Bau fertig ist, ist kein Geld da und der Auftraggeber verschollen.
Recherchen des Magazins "Kontrovers" legen nahe: Es handelt sich nicht um Einzelfälle, sondern um ein seit Jahren wachsendes System, das trickreich bestehende Graubereiche im Ausschreibungs- und Arbeitsrecht in Deutschland und der EU nutzt.
Es geht um Ausbeutung, aber auch um Steuerbetrug und Wettbewerbsverzerrung. Oft ist der Wohnungsbau betroffen - und sehr oft öffentliche Aufträge.
… in Deutschland. Hier bleibt die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), sobald sie ihre Quoten erfüllt hat, im Büro. Ob Papiere echt oder gefälscht sind, wird kaum geprüft. Schließlich, so ein Ermittler, wolle man die Wirtschaft "nicht kriminalisieren."
Dabei zählen die Ehrlichen in der deutschen Bauwirtschaft mit ihren Angestellten ebenso zu den Geschädigten dieses Systems.
Am Ende zahlen also - mit Ausnahme einiger cleverer Geschäftemacher - alle drauf. Am schlimmsten trifft es die osteuropäischen Arbeiter, die oft monatelang arbeiten, ohne bezahlt zu werden, und sich am Ende isoliert in ihren Baucontainern mit undurchsichtigen Geschäftskonstruktionen und den Feinheiten paralleler Anwendung unterschiedlicher Sozialgesetzgebung in Herkunfts- und Zielland herumschlagen müssen.
Echte Sklaven wären vermutlich besser dran als diese Arbeiter vom Balkan, denn im alten Rom war jedem Sklavenbesitzer die Verpflichtung auferlegt, für seine Leibeigenen zu sorgen (Unterkunft, Verpflegung, Familienunterhalt). Selbst dieser Minimal-Verpflichtung haben sich die modernen Sklavenhalter heute längst entledigt. Diese Arbeiter sind „freie Menschen“, also müssen sie selbst zusehen, wo sie bleiben. Denkt da außer mir noch jemand an diesen alten Grusel-Slogan „Arbeit macht frei“?
Die Schuldigen hat der BR praktischerweise gleich ausgemacht: „die cleveren Geschäftemacher“. Böse Menschen, allesamt. Am besten gleich ins Gefängnis mit diesem Pack! So einfach kann man es sich machen. Muss man aber nicht. Denn das ist bei Weitem kein Einzelfall. Man blicke beispielsweise nach Katar, wo unser Kaiser Franz nicht einen einzigen Sklaven gesehen hat – diese Schlichtgestalt des deutschen Fußballs, wie Volker Pispers ihn einmal so treffend bezeichnet hat.
Versetz dich doch bitte nur einen Augenblick lang in die Rolle eines beliebigen Bauunternehmers!
Ohne Aufträge bricht alles zusammen, er muss seine Arbeitnehmer entlassen, ergo braucht er Aufträge.
Aufträge gibt’s aber nur, wenn man Ausschreibungen gewinnt.
Ausschreibungen gewinnt man aber nur, wenn man derjenige mit dem billigsten Angebot ist.
Der Billigste ist man aber nur, wenn man – vielleicht zähneknirschend, vielleicht skrupellos – trickst, weil man so die Kosten niedriger hält, als jemand das kann, der nicht trickst.
Da auf lange Sicht aber alle tricksen müssen, setzt sich letztendlich nur der durch, der auf kriminelle Pfade ausweicht – so wie einer dieser Bauunternehmer. Der tut das aber nicht, weil er ein besonders böser Mensch wäre, sondern, weil er mit seiner Firma unter einem enormen Überlebensdruck steht, nach dem Motto „Mach ich’s nicht, macht’s halt ein anderer.“
Nun sollte man meinen, die Politik, die Justiz wären gefordert, da drastische Riegel vorzuschieben, aber weit gefehlt. Man will die Wirtschaft „nicht kriminalisieren“. Allein die Wortwahl ist schon köstlich, ganz so als ob die Wirtschaft nur deswegen kriminell werden würde, weil man sie dabei erwischen könnte. Also erwischt man sie lieber nicht! Ein solch merkwürdiges Verständnis von Strafrecht vermutet man vielleicht in Erdogans Türkei, aber nein, die im Artikel zitierte FKS untersteht Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, einem einschlägig bekannten [denk dir das Wort selbst].
Die Wirtschaft macht letztendlich, was sie will, die Politik lässt sie machen. Auf Französisch heißt das „laissez faire“. Und genau das ist die Kernaussage des Wirtschaftssystems (Neo)liberalismus. Fehlende staatliche Regulierung beziehungsweise ein schwacher Staat führt dazu, dass das Gesetz des Stärkeren gilt, dass die Vielfalt der Anbieter sich schließlich auf einige wenige Große konzentriert (man betrachte nur den Lebensmittelmarkt, in dem nur noch vier große Konzerne den Ton angeben). Der kleine Mann bezahlt dafür doppelt: Er muss sich der Marktmacht beugen und sich auf Dauer mit immer niedrigerem Einkommen begnügen. Weniger als 25% der Beschäftigungsverhältnisse sind heute noch klassische unbefristete Arbeitsverhältnisse. Mit TISA soll auch noch der letzte Rest an Arbeitsrechten für den unselbstständig Beschäftigen fallen. Und er bezahlt ein zweites Mal, denn wenn am Schluss des Killerwettbewerbs nur noch einige wenige Oligopole übrig bleiben, dann diktieren die die Preise und diese werden dann nur noch eine Richtung kennen: ganz gewaltig nach oben. Das ist übrigens kein linker Schmuh, sondern klassische Volkswirtschaftslehre.
Und wer hat’s erfunden? Nein, nicht die Schweizer, ausnahmsweise, genauso wenig übrigens, wie sie den Begriff „Moral“ erfunden haben. Diese Lehre der Marktwirtschaft ohne jegliche Kontrolle stammt von Adam Smith und wurde von Milton Friedman und seinen Chicago Boys wieder aufgegriffen. Es folgten die ersten Gehversuche mit diesem ultra-rechten System, für die man sich Chile ausgesucht hat. Da der demokratisch gewählte Salvador Allende den USA ein Dorn im Auge war, hat man ihm zu einer vorzeitigen Reise ins himmlische Paradies verholfen und einem reizenden, netten General namens Pinochet die Regierung übertragen, mit der Maßgabe, dass die Chicago Boys die Wirtschaftspolitik des Landes gestalten. Du kennst ja sicher die Geschichte und weißt also, welch ein irdisches Paradies aus Chile in jener Zeit geworden ist. Das war die Generalprobe und schließlich wurde der Neoliberalismus unter US-Präsident Reagan zur Staatsdoktrin erhoben und von seiner Komplizin Maggie Thatcher nach Europa geholt. Deutschland als Exportweltmeister und Musterschüler der USA konnte da natürlich nicht zurückstehen und Kanzler Schröder (SPD, wirklich!) hat dieses System mit der Agenda 2010 nach Deutschland geholt und damit die bis dahin geltende Soziale Marktwirtschaft weitgehend über Bord geworfen.
Insofern ist Schäubles Weigerung, sich in solche „marktwirtschaftlichen Prozesse“ einzumischen, völlig konsequent. Das gehört sich nicht in einem neoliberalen System.
Die betroffenen Bauarbeiter sind nicht der Anfang dieser Entwicklung und ganz bestimmt nicht das Ende. Es wird so weitergehen in immer mehr Bereichen des täglichen Lebens. Kanzlerin Merkel (und die genießt in der Bevölkerung immerhin 70% Zustimmung) nennt ihr Ziel „marktkonforme Demokratie“ (= schwacher Staat, Unterordnung des Staates und seiner demokratisch gewählten Organe unter die Prozesse des Marktes). Und warum? Weil DU, der du vermutlich eines Tages selbst betroffen sein wirst, dafür bist, dass wir in einem System leben, in dem staatliche Kontrolle der Märkte verpönt ist, in einem System, von dem ausschließlich die Superreichen profitieren! Ach, du bist gar nicht dafür? Warum findest du Angela Merkel dann so toll? Warum wählst du dann so? Alle Parteien im Deutschen Bundestag, außer den Linken, sind Befürworter und Stützen des Neoliberalismus, darüber hinaus die FDP, die AfD und die neue ALFA.
Nicht diese Betrügereien, sondern dieses System ist der eigentliche Skandal. Die kriminellen Machenschaften der Unternehmer sind nur die durch und durch logische Konsequenz. Und das macht mich so unendlich traurig: Menschen und ihre Schicksale interessieren kaum mehr jemanden. Existenzen werden mit einem Fingerschnippen vernichtet und niemand fühlt sich zuständig, einzugreifen. Ja, Leistung lohnt sich jetzt wieder, nur nicht mehr für diejenigen, die sie erbringen. Und keine Änderung in Sicht. Der Mensch ist auf dem besten Wege, sich noch in diesem Jahrhundert selbst auszurotten, ganz einfach weil ihm die Kontrolle über seine gesamte Daseinsvorsorge immer mehr entgleitet. Was die wenigen superreichen Investoren (die reichsten 80 Personen besitzen heute schon die Hälfte des gesamten Weltvermögens und diese Entwicklung beschleunigt sich gerade gewaltig), letztendlich mit ihrem Vermögen anstellen wollen, wem sie noch etwas verkaufen wollen, wenn niemand mehr Geld zum bezahlen hat, entzieht sich vollkommen meinem Verständnis. Aber das Problem sind wie gesagt nicht die Superreichen, sondern diejenigen, die sie - in einem demokratischen System - gewähren lassen oder die sie - wie unser Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzende Gabriel - gar noch darin unterstützen. Also du! Wer sein eigenes Grab schaufelt und sich auch noch darüber freut, wie erfolgreich er bei seiner Tätigkeit ist, der hat es aber auch wirklich nicht besser verdient!