Die gefährliche westliche Hybris um die Ukraine

Erinnert sich noch jemand an die Kubakrise?? Ja, du! Komm, das weißt du, zumindest aus dem Geschichtsunterricht! 1962 war das. Man kann diese Episode gerne als den Höhepunkt des Kalten Krieges ansehen, der um ein Haar zu einem sehr heißen Dritten Weltkrieg geworden wäre. An dieser Katastrophe ist die Menschheit buchstäblich nur um Haaresbreite vorbeigeschrammt.

In Kuba hatten die US-Amerikaner auf Spionagebildern Satellitenabschussvorrichtungen entdeckt. Für Mittelstreckenraketen vom  sowjetischen Typ SS-4. Diese waren bereits unterwegs nach Kuba als Reakti0n der UdSSR auf US-amerikanische Mittelstreckenraketen, die z.B. in der Türkei - also in unmittelbarer Nähe zu russischen Territorien - aufgestellt worden waren. Die Amerikaner unter der Kennedy-Administration sahen ihre Sicherheitsinteressen massiv verletzt, dadurch, dass russische Raketen so nahe vor ihrer Haustür platziert werden sollten. Mit Recht, denn nun mussten auch die Amerikaner Millionen Tote im eigenen Land befürchten, falls die UdSSR angreifen - oder auch nur auf einen NATO-Angriff reagieren würden. Vor der Stationierung in Kuba war diese Gefahr eher eine theoretische. Die Verbündeten in Europa hätten in einem Krieg massiv etwas abbekommen, sicher, unvermeidliche und für die Amis vielleicht durchaus akzeptable Kollateralschäden, wenn man den Erzfeind dadurch für die nächsten hundert Jahre in die Steinzeit zurückbomben konnte. Aber dass Amerikaner selbst sich der Gefährdung gegenübersahen, die sie anderen ohne jegliche Skrupel zumuteten - absolut inakzeptabel!

Also blockierten sie den Seeweg nach Kuba. Keine sowjetische Rakete durfte das Land erreichen. Jedes sowjetische Schiff, das versuchen sollte, die Blockade zu durchbrechen, würde unweigerlich versenkt werden. Und ein offener Angriff seitens der Amerikaner auf ein russisches Kriegs- oder Handelsschiff - da waren alle sich einig - würde unvermeidlich eskalieren und hätte das Potenzial gehabt, den Dritten Weltkrieg auszulösen. "Der Klügere gibt nach", heißt es. Und der Klügere, der hieß in diesem Fall wohl Nikita Chruschtschow, denn er befahl seinen Schiffen in letzter Sekunde, abzudrehen. Doch nicht ohne Gegenleistungen. Im  Zuge der nachfolgenden Verhandlungen wurden US-Raketen aus der Türkei und anderen Regionen abgezogen und auch sowjetischen Sicherheitsbedenken somit Rechnung getragen. Die anschließend folgenden Rüstungskontroll-Verhandlungen und späteren Abrüstungsverhandlungen dürften wohl als ein positives Ergebnis aus dieser Krise angesehen werden.

Heute geht es wieder in die entgegengesetzte Richtung. Die Welt wird von den Rüstungsindustrien in aller Welt massiv hochgerüstet, die NATO auf Teufel-komm-raus ausgedehnt, Sicherheitsinteressen werden - zumindest von unserer Seite - vollkommen ignoriert. Dabei sollten speziell die Europäer doch eigentlich ein existenzielles Interesse daran haben, dass ein Krieg weiterhin für keine Seite gewinnbar sein darf, denn das Schlachtfeld eines solchen Krieges hieße in jedem Fall ... Mitteleuropa!

Die Parallelen der Ukraine-Krise zur Kuba-Krise sind eigentlich völlig unübersehbar, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Wir versuchen, den Einflussbereich der NATO massiv auszuweiten, indem wir - nach der Aufnahme der baltischen Staaten in die NATO, was schon damals absprachewidrig war - nun auch noch die Ukraine in NATO und EU integrieren wollen. Die NATO würde Russland damit von zwei Seiten aus in die Zange nehmen können. "Aber die Ukraine will das doch und die Ukraine ist ein souveräner Staat! Also dürfen die das auch!" So lautet stereotyp die Message unserer Politiker und der Mainstream-Medien, denen jegliches Gespür für Zusammenhänge und geschichtlichen Kontext abhanden gekommen zu sein scheint. Na gut, wenn wir so argumentieren wollten, dann hätte Kennedy damals die Seeblockade nicht vornehmen dürfen. Auch Kuba war schließlich ein souveräner Staat und, nebenbei gesagt: Fidel Castro hätte sich wie ein Schneekönig gefreut, wenn er Waffen unter seiner Kontrolle gehabt hätte, mit denen er den Amerikanern so richtig fett in den Allerwertesten hätte treten können. Dieselbe Situation, wie gesagt, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Dennoch hat Nikita Chruschtschow nachgegeben und die Sicherheitsinteressen der USA letztlich akzeptiert und somit die Gefahr eines Weltkriegs - erst einmal - gebannt.

Aber wir sind offenbar nicht so klug, wie seinerzeit Chruschtschow. Wir stellen uns lieber mal ganz dumm und tun so, als wenn Putin ein irrationaler und brutaler Machtpolitiker sei, dessen Intentionen schlichtweg nicht nachvollziehbar seien. Nun kann man Wladimir Putin sicher einiges vorwerfen in Bezug auf Machtpolitik, auf Demokratiefeindlichkeit, darauf, wie er seine Interessen innen- wie außenpolitisch durchsetzt, aber Irrationalität ist wohl das Letzte, das man ihm vorwerfen könnte. Seine Position ist sogar nicht nur in sich völlig logisch, sondern eigentlich auch recht simpel. Russland ist eine Großmacht. Sowohl wirtschaftlich, als auch militärisch. Doch wenn die Ukraine die Seiten wechselt, ändert sich die Machtbalance schlagartig. Wenn die Handelsbeziehungen, die Russland und die Ukraine momentan pflegen, sich stattdessen in die EU verlagern, wird das empfindliche Einbußen für die russische Wirtschaft zur Folge haben. Und wenn die Ukraine der NATO beitritt, wird ein Krieg gegen Russland für den Westen womöglich gewinnbar. Und damit steigt - übrigens gemäß der "mutually assured destruction"-Doktrin des damaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara - auch die Gefahr, dass ein Krieg wieder geführt wird, eben weil er gewinnbar erscheint. Das "Drittens" betrifft die Halbinsel Krim. Dort ist bekanntermaßen die russische Schwarzmeerflotte stationiert, eine zentrale Machtbasis für den Einfluss Russlands auf der Südhalbkugel. Wer versucht, Russland von der Krim abzuschneiden und dem Land diese Basis zu entziehen, der greift damit unmittelbar die Großmachtsposition Russlands selbst an - ein Angriff, den Russland ebenso wenig hinnehmen kann oder wird wie seinerzeit John F. Kennedy die Raketen vor seiner Haustür.

Man kann Russland sicherlich mit Recht vorwerfen, dass Großmachtsambitionen im Völkerrecht nicht vorgesehen sind. Auch, dass die Annektion der Krim ebenso völkerrechtswidrig war, wie ein Einmarsch in die Ukraine völkerrechtswidrig wäre, steht außer Debatte. Aber wir können uns nicht auf ein Völkerrecht berufen, das wir selbst seit Jahrzehnten ständig verletzen, wann immer es unseren eigenen Interessen entsprach. US-Drohnenangriffe auf Zivilisten in Pakistan entsprechen nun mal auch nicht dem Völkerrecht. Ebenso wenig entsprachen die zahlreichen Putsche und Putschversuche der USA, beispielsweise in Chile 1973, der Sturz der ersten demokratisch gewählten Regierung im Iran 1953 oder - um wieder auf das Thema Kuba zurückzukommen - 1961 die fehlgeschlagene Invasion der Schweinebucht, mittels der die Castro-Regierung gestürzt werden sollte, dem Völkerrecht. Sich ständig auf ein Völkerrecht zu berufen, das wir selbst nur dann beachten und zu beachten bitten, wenn es unseren Interessen dient, ist mehr als scheinheilig. Wenn Völkerrecht gelten soll - und  bitteschön, das wäre ein echter Fortschritt für die Menschheit, also bitte gerne! Danke! - dann muss es aber auch für ALLE Staaten gleichermaßen gelten. AUCH für die USA und die NATO-Staaten! Solange das nicht der Fall ist, bleibt es beim Recht des Stärkeren. Und sowohl China, als auch die USA, als auch Russland werden immer versuchen, in diesem Spiel die Stärkeren zu sein beziehungsweise zu bleiben. Und wenn wir in diesem Kräftemessen der Großmächte nicht aufgerieben werden wollen, sollten wir im eigenen Interesse zusehen, dass Kriege für keine Seite gewinnbar bleiben. In diesem Sinne: Hände weg von der Ukraine! Das gilt nicht nur für Putin, sondern auch und gerade für uns! Amen!