Inga räusperte sich. „Glauben Sie mir bitte, Herr Li, dass der Auftritt in dieser Talkshow absolut nicht unsere Idee war. Unsere Chefredakteurin, also die ‚Flummi‘, hat darauf bestanden, dass wir dort hingehen. Sie wollte die Reichweite der Story und damit der Zeitung erhöhen. Und allem Anschein nach hat sie bekommen, was sie sich erhofft hat, also ist eine kritische Distanz von ihr nicht zu erwarten.“
Li nickte. „Ein überaus interessantes Lehrstück von einem Meister seiner Zunft darüber, was wahre Macht bedeutet, nicht wahr? Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das ist das eine. Aber die Fassade verschleiert nur die Seilschaften, die auch hier in Deutschland in Wahrheit das Sagen haben. Aber ich will mich nicht beschweren, bei wem auch? Uns allen bleibt doch nur, uns mit den Verhältnissen zu arrangieren, die wir vorfinden, jedenfalls dann, wenn wir sie nicht in unserem Sinne zu verändern vermögen. Nicht wahr?“
„Jedenfalls tut es mir leid, wie es gelaufen ist. Insbesondere Inga, also Frau Erdem, hat sich unglaublich engagiert dafür eingesetzt, dass in unseren Artikeln und sonstigen Äußerungen auch Aspekte einfließen, die sicherlich mehr in Ihrem Sinne gewesen wären. Doch sind wir nicht diejenigen, die das letzte Wort darüber haben, was letztlich veröffentlicht wird und was nicht. Dazu müssten Sie sich mit unseren Chefredakteuren unterhalten. Also, nach den gemachten Erfahrungen weiß ich wirklich nicht, wie wir Ihre Bitte an die Gesellschaft besser transportieren und eine gewisse positive Grundstimmung für Ihre Eingliederung in die Gesellschaft erzeugen können.“
„Meine … Bitte?“
„Aber … ja. War das nicht Ihr Anliegen? Sollten wir nicht Ihre Geschichte erzählen und auf diese Weise für Toleranz und für einen Deal werben, der eine Win-Win-Situation für alle Seiten bedeuten könnte?“
„Falls Sie das wirklich dachten, hätten Sie mich wohl falsch eingeschätzt und man könnte den Ausdruck ‚Bitte‘ unter Umständen als eine Beleidigung meiner Intelligenz deuten. Ich ermahnte Sie bereits einmal, auf Ihre Worte zu achten! Nehmen Sie das bitte nicht auf die leichte Schulter!“
„Dann bedaure ich sehr, wenn wir Sie missverstanden haben.“
„Sie verwechseln vielleicht Höflichkeit mit Schwäche, kann das sein? Ich sage Ihnen dagegen, Höflichkeit zeigt Stärke. Jemand, der sich gezwungen sieht, von Höflichkeit Abstand zu nehmen, zeigt damit deutlich, dass er sich in die Enge getrieben fühlt, dass er nicht mehr Herr der Lage ist. Ein gutgemeinter Rat: Hüten Sie sich weniger vor den unhöflichen Menschen, sondern vielmehr vor den überaus höflichen! Nein, ich bitte nicht. So naiv bin ich nicht, war ich auch nicht, niemals! Ich habe sehr früh lernen müssen, dass einem nichts geschenkt wird auf dieser Welt. Wenn man etwas haben will, muss man es sich nehmen oder etwas dafür geben, was wiederum das Gegenüber braucht. Das ganze Leben ist ein einziges Geschäft, und zwar völlig unabhängig davon, wie das System sich nennt, ob Kommunismus oder Sozialismus oder Staatskapitalismus oder Neoliberalismus. Nicht das System entscheidet, wie wir leben, sondern Menschen. Es sind immer Menschen, die entscheiden, ob und was wir bekommen. Leute, die ‚das System‘ – welches auch immer – bekämpfen und diesen einfachen Zusammenhang verkennen, rennen sich nur gegen Windmühlen die Köpfe blutig.“
„Das ist ein interessanter Gedanke“, meldete sich erstmals in dieser Sitzung Inga zu Wort. „Das System ist, wie es ist und Sie tragen sich offenbar nicht mit der Absicht, es zu verändern. Menschen sind ebenfalls, wie sie sind, und auch dort haben Sie keinen Ansatz für Veränderungen. Wie also sieht Ihr Ansatz aus, eine Akzeptanz für Sie in dieser Gesellschaft zu erreichen?“
Li klatschte die Hände zusammen und lachte. „Ist das nicht offensichtlich? Ich plane das auf dieselbe Weise zu tun wie alle Menschen, die etwas Ungewöhnliches erreicht haben. Ich nutze die gangbaren Wege, mache mir das System zunutze beziehungsweise die erwähnten Seilschaften dahinter. Wie schwierig sich diese Aufgabe darstellt, davon hat Ihr Auftritt in der Bubúlo-Show Ihnen sicher einen eindrucksvollen Einblick gewährt. Schwierig ja, unmöglich? Nein! Publicity, also der Grund, aus dem Sie beide hier sind, ist nur eine Schiene, die aber unerlässlich und unglaublich wichtig ist. Ich will die Protektion derer, die die Macht haben, sie zu gewähren. Im Gegenzug unternehme ich keine Anstrengungen, sie aus ihrer Machtposition zu vertreiben. Ein Geschäft, also, bei dem Macht die einzige akzeptierte Währung ist. Aber die Fassade von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit darf dabei nicht angekratzt werden, das ist quasi eine ständige Nebenbedingung bei solcherlei Geschäften. Ein Deal kann noch so abstrus sein, wenn er gut in der Öffentlichkeit verkauft wird, funktioniert es. Wenn nicht, nun, das sehen Sie beispielsweise an den verkorksten Maskendeals diverser Unions-Granden, plumpe Gier wird von der Öffentlichkeit nun mal nicht toleriert. Jedenfalls nicht offiziell, denn, seien wir uns ehrlich: Welche wirklich harschen Strafen haben diese Täter denn zu erwarten? Sie haben natürlich keine Strafen, außer ein paar symbolischen Sanktionen, zu gewärtigen, weil sie über eine gewisse Macht verfügen, und das wiederum, weil sie Teil einer Seilschaft sind.“
„Aber Sie sind doch wohl nicht Teil einer solchen Seilschaft, oder?“ Edgar gelang es nicht, eine gewisse Belustigung zu verbergen.
„Nicht im herkömmlichen Sinne, nein. Aber subkutan durchaus. Wie Sie sehen werden, wenn Kimmich Sie das nächste Mal aufsucht, konnte ich meine Intentionen durchaus durchsetzen, ohne dass man eine Spur dieser Interaktionen zu mir zurückverfolgen könnte. Ich konnte Macht ausüben. Und das werde ich wieder tun. Und wieder, solange, bis ich am Ziel bin oder bis eine stärkere Macht es schafft, mich aus meiner Position in den Abgrund zu kicken. Deshalb ist es keine Bitte, die ich hier der Gesellschaft vorzutragen versuche, sondern eher eine Forderung. Ich biete ihr ein Geschäft an, auf Basis einer Gegenleistung.“
„Ein Angebot, das maßgebliche Leute nicht ablehnen können?“
„Ah, Sie zitieren Don Corleone. Auch ein sehr gutes Lehrstück zum Thema ‚Macht‘, nicht wahr, zumal der Film Der Pate auf sehr vielen wahren Begebenheiten basiert. Ja, exakt, genau das meine ich. Ich kann beispielsweise dafür sorgen, dass eine Menge Kids nicht mehr durch meine Organisation an den Stoff rankommen, der sie süchtig macht und sie langfristig zerstört. Ich könnte theoretisch sogar einen großen Teil des internationalen Drogenkartells ans Messer liefern, einschließlich der kolumbianischen Drogenbarone. So weit wird es aber nicht kommen, denn, unter uns gesagt, diese Leute sind wiederum Teil von großen und mächtigen Seilschaften, die an einer Lösung des Drogenproblems nicht im Geringsten interessiert sind. Daran interessiert ist lediglich die Fassade, der Rechtsstaat. Deshalb, übrigens, spielt es nicht die geringste Rolle, ob ich in dieser Branche Geld mache oder nicht. Irgendjemand wird immer Geld damit verdienen. Selbst wenn ich also von heute auf morgen damit aufhören würde, wäre die Angebotslücke nach nur wenigen Tagen wieder restlos geschlossen.“
„Aber …“, grummelte Inga. „… das würde ja bedeuten, dass Ihr Angebot, sich aus dem Drogenhandel zurückzuziehen, keinerlei Wert für die Gesellschaft hätte.“
„Einen faktischen Wert nicht, das ist richtig. Aber einen symbolischen, denn, wie gesagt, eine wichtige Nebenbedingung für jede Art von Geschäften ist, dass die Fassade nicht angekratzt werden darf. Und mein Angebot stärkt eben diese Fassade, es lässt sich von einschlägigen Kreisen wunderbar dafür verwenden, zu zeigen, wie sehr diese mit der Fassade der Rechtsstaatlichkeit verbunden sind. Eine solche Geste ist daher für diese Kreise absolut nicht wertlos und diese Leute wissen das.“
„Das klingt für mich richtig zynisch und abstoßend“, protestierte Inga.
„Das klingt nicht nur zynisch, das ist zynisch. Und abstoßend, richtig! Aber fragen Sie sich selbst, Frau Erdem, wollen Sie den Zynismus, der in dieser Gesellschaft generiert wird, mir anlasten, nur weil ich ihn für meine Zwecke zu nutzen weiß?“
„Ich finde, Frau Erdem hat recht“, meinte Edgar. „Aber dann kommen Sie wieder mit dem Spruch, dass zuerst das Fressen kommt und dann erst die Moral. Und dieses Argument ist letztlich auch unwiderlegbar. Lassen Sie uns unabhängig davon das Spiel einfach mal von Anfang bis Ende im Geiste durchgehen, damit auch ein Simpel wie ich versteht, wie die Einzelteile des Puzzles ineinandergreifen. Wir erzählen also in der Depesche über Sie, zeigen der Gesellschaft, wer Sie sind, was Sie tun, auch, was Sie tun könnten, über welche Macht Sie verfügen und wir überbringen ihr Ihr Angebot, dass Sie mit Ihrem illegalen Treiben aufhören, wenn Sie dafür unbelästigt und frei hier leben dürfen. So weit richtig?“
„Vereinfacht gesagt, ja.“
„Daraufhin werden im für Sie besten Fall gewisse Leute, ich nehme an, hochrangige Politiker, sagen: ‚Wir schaffen das!‘, sie werden Ihr Angebot annehmen und die können sich dann damit brüsten, eine große, ach was, die größte kriminelle Vereinigung Europas unschädlich gemacht zu haben, auch wenn sich faktisch so gut wie nichts verändert?“
„Stark vereinfacht formuliert, aber ja, so in etwa.“
„Ihnen ist schon bewusst, wie leicht Politiker über einen solchen Spruch wie ‚Wir schaffen das‘ stolpern können?“
„Dessen bin ich mir sehr bewusst, deshalb war es für mich wichtig, diese Kampagne mit Öffentlichkeitsarbeit zu beginnen. Wissen Sie, die Diskussion darüber, wie man in meinem Fall zu verfahren hätte, ist in den sozialen Medien längst entbrannt. Und das ist das Verdienst Ihrer Artikel und auch Ihres Auftritts bei Bubúlo. Noch liegt die Law-and-Order-Fraktion klar vorne. Aber die öffentliche Meinung lässt sich beeinflussen, da und dort auf eher subtile Weise, an anderer Stelle eher mit einem Vorschlaghammer. Das sind Vorgänge, die sich gezielt steuern lassen und die sind keineswegs Teil Ihres, sagen wir, Auftrags.“
„Glatteis für Politiker, die sich auf einen solchen Deal mit Ihnen einlassen, ist eine solche Entscheidung gleichwohl. Sie könnten deshalb versucht sein, ihre Zusage zurückzuziehen, nachdem Sie Ihre kriminelle Vereinigung aufgelöst haben. Was machen Sie dann?“
„Dann kommt der Teil, in dem ich mir die Asse im Ärmel ganz nach vorne schiebe. Diese Rückversicherung hat sich mir erst erschlossen, nachdem ich ins Informationsgeschäft eingestiegen bin. Und im Übrigen denke ich nicht daran, meine Organisation, die zu einem erheblichen Teil aus legalen Operationen besteht, aufzulösen. Mein Angebot lautet lediglich, mich aus den illegalen Geschäftsfeldern Drogen, Glücksspiel und Waffenhandel zurückzuziehen. Das Geschäft mit Information bleibt natürlich. Und da liegen auch meine Asse verborgen. Wissen Sie, sollte der Pakt gebrochen werden, würden maßgebliche Politiker das massiv zu bereuen haben. Der deutsche Bundeskanzler würde sich mit plötzlich auftauchenden Gesprächsmitschnitten konfrontiert sehen, die seine Gedächtnislücken im Cum-Ex-Skandal wieder eindeutig und unmissverständlich schließen würden. Die Käuflichkeit des Finanzministers und seiner Partei wäre belegt, samt Preisschild und Mehrwertsteuerausweis. Der Wirtschaftsminister müsste mit Enthüllungen rechnen, die sein Verbleiben im Amt schlichtweg unmöglich machen und die Außenministerin würde wohl plötzlich als die eiskalte, intrigante Karrieristin offenbart werden, die sie ist, was ihre Popularität so weit in den Keller abrauschen ließe, dass selbst ihre eigene Partei die Notbremse ziehen müsste. Die ganze Regierung wäre am Ende, von einem Tag auf den andern und die sie tragenden Parteien ebenso. Und das wäre nur die Spitze des Eisbergs. Selbstverständlich wäre dafür Sorge getragen, dass diese Informationen auch bei meinem unerwarteten Ableben oder Verschwinden ans Licht kämen.“
„Das würde eine ganze Menge Arbeit für uns geben“, sagte Edgar schmunzelnd.
„Eher nicht. Die sogenannten ‚Qualitätsmedien‘ sind diesen Seilschaften heutzutage viel zu hörig, als dass ich solche Informationen euch exklusiv anvertrauen würde. Ich würde sie vielmehr auf eine Weise lancieren, dass ihr schließlich gar nicht mehr anders könnt, als sie auch zu veröffentlichen, zum Beispiel über Freie Radios, unabhängige Blogger, Auslandsmedien, WikiLeaks et cetera.“
Edgar hatte aus dem Augenwinkel Ingas steigende Unruhe bemerkt, sie rutschte in ihrem Sessel herum, als ob sie auf Reißnägeln säße. Jetzt konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. „Wenn ich all das richtig verstehe, dann spielen wir beide hier also nur Ihre Laufburschen, diejenigen, die einen Job machen, so wie Sie sich das vorstellen?“
„Aber ja. Was hatten Sie denn gedacht, was das hier wird, eine Art Sektempfang, weil ich, der große Banditenkaiser, einfach mal Lust auf einen gemütlichen Plausch habe?“
„Ich dachte, es ginge um eine … eine Art Expedition, darum, Erkenntnisse über einen Menschen zu gewinnen, dem Furchtbares angetan wurde und der um seinen Platz in der Gesellschaft ringt, um Toleranz, um Nächstenliebe, um Vergebung, um Sühne, um all das, was wichtig ist im menschlichen Zusammenleben. Und Sie sprechen total zynisch von … von … Geschäften!“
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